Chiemgau
Der Name Chiemgau ist erstmals in der Notitia Arnonis (788-790) als pago Chimingaoe erwähnt. Die Gebietsbezeichnung geht auf das Dorf Chieming zurück, dessen Name wohl von dem Personennamen Chiemo abgeleitet ist und das auch dem Chiemsee seinen Namen gab. Die in Quellen bezeugten Orts- und Landschaftsbezeichnungen sind nicht statisch zu verstehen, sondern waren einer dauernden Wandlung unterzogen. So umfasste der Begriff "Chiemgau" anfangs nur das Gebiet im direkten Umkreis des Dorfes Chieming und wurde räumlich ausgeweitet bis zum heutigen Umfang der Region rund um den Chiemsee bis in die Chiemgauer Alpen. Die in den Salzburger Güterverzeichnissen des 8. Jahrhunderts aufscheinenden Orte mit dem Zusatz „im Chiemgau“ liegen alle zwischen Chiemsee und Waginger See. Nördlich des Chiemsees lag der nur die Umgebung des Ortes Obing umfassende Obinggau, welcher ebenfalls in der Notitia Arnonis verzeichnet ist. Im Mittelalter gehörte das rechte Innufer bis zum Simssee mit den Orten Nußdorf, Roßholzen, Altenbeuern, Rohrdorf, Höhenmoos, Lauterbach, Riedering und Sims nicht zum Chiemgau, sondern zum Gau Inter Valles. Das Gebiet nördlich und östlich von Gars am Inn lag im Isengau.
Eine mögliche politische Bedeutung der mittelalterlichen Gaue ist von der historischen Forschung bis heute nicht hinreichend geklärt. Nach dem Sturz des Herzogshauses der Agilolfinger 788, und der Eingliederung Bayerns in das Frankenreich teilte man das Land in Grafschaften ein, die von Grafen geleitet wurden. Damit hatten die Gaue ihre frühere wohl politische bzw. verwaltungstechnische Bedeutung verloren und ihre Namen wurden zu reinen Landschaftsbezeichnungen. Etliche dieser Namen, wie z.B. Inter Valles ("zwischen den Tälern"), Isengau, Mattiggau, Sundergau, Zeidlarngau und Salzburggau verschwanden im Laufe der Jahrhunderte. "Chiemgau" ist der einzige Gauname der Agilolfingerzeit, der sich in Altbayern bis heute erhalten hat. Allerdings ist noch nicht eingehend untersucht, inwieweit die Bezeichnung durchgängig in Gebrauch war oder erst später (im 18. oder 19. Jahrhundert) in historisierender Absicht für ein größeres Gebiet wiederbelebt wurde. Johann Andreas Schmeller schreibt 1837: Von den ältern Bezirksnamen dieser Art leben noch mehrere im Volke fort; z. B. das Allgäu, Attergäu, Chiemgäu (Kheǝ ͂ kǝ), Duenagäu (Donaugäu) „Dunkǝ ͂“ , Pinzgäu etc.
Das Kloster Baumburg verfügte laut den Urbaren von 1204 und 1245 über Besitz „im Chiemgau“ in Chieming, Höchstätt, Stöttham, Aufham, Pfaffing und Laimgrub. Die Orte liegen alle in unmittelbarer Nähe von Chieming. In einem Herzogsurbar aus den Jahren nach 1301 erscheint für die Gegend nördlich des Grassauer Tals (Tal der Tiroler Ache) die Bezeichnung „in dem Chyemkäv“ (Chiemgäu, sächlich!). Das Landgericht Traunstein war seit dem 14. Jahrhundert in so genannte Schergenämter unterteilt. Dazu gehörte das „ampt in dem Chiempkäv“ welches ein Gebiet zwischen dem Chiemsee und der Traun umfasste. Im 15. Jahrhundert änderte man die Einteilung. Dadurch entstand das „Amt Oberchiemgau“, das in etwa dem alten Amt Chiemgau (ohne den Bergener Winkel) entsprach und von Bernhaupten bei Bergen bis Erlstätt reichte. Das „Amt Niederchiemgau“ umfasste das Gebiet nördlich von Erlstätt bis Haßmonig bei St. Georgen. Diese Einteilung blieb bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts bestehen.
Adelsgeschlechter im Chiemgau
In den Geschichtsquellen finden sich Hinweise darauf, dass Grafschaften auf Grundlage von Gauen errichtet wurden. Allerdings bestanden oft innerhalb eines Gaus auch mehrere Grafschaften oder Grafschaften dehnten sich über Gaugrenzen oder mehrere Gaue hinweg aus. Die beiden Begriffe Gau und Grafschaft müssen daher nicht in einem Zusammenhang stehen. Die moderne Geschichtswissenschaft beurteilt die Einführung und Verwendung der Begriffe „Gaugraf“ und „Gaugrafschaft“ durch Historiker des 18. und 19. Jahrhunderts als Konstrukt ohne Quellengrundlage. Im Chiemgau verfügten um 1200 bedeutende Adelsgeschlechter über Besitz und Rechte, starben jedoch im 13. Jh. aus: Im Südwesten und westlich des Chiemsees die Grafen von Falkenstein (erloschen 1272) mit dem Hauptsitz „Hadmarsberg“ (Hartmannsberg) und im Nordwesten die Grafen von Wasserburg (erl. 1259). Den Grafen von Ortenburg und Kraiburg (erl. 1248) gehörte die Herrschaft Marquartstein und Besitz nördlich des Chiemsees. Nach dem Erlöschen dieser Geschlechter wollten sowohl die Salzburger Erzbischöfe als auch die bayerischen Herzöge deren Rechte und Besitz an sich bringen.
Der Chiemgau bleibt bei Bayern
Seit dem 8. Jahrhundert verfügte die Salzburger Kirche im Gebiet des heutigen Chiemgaus über Streubesitz in mehr als 20 Orten. Die Erzbischöfe versuchten, Grafschaften und Gerichte in diesem Gebiet zu erwerben, um damit die Herrschaft über den gesamten Chiemgau zu erlangen. Zunächst aber sicherten sie sich die Herrschaft über den Salzburggau: Nachdem 1229 die Grafen von Lebenau im unteren (nördlichen) Salzburggau ausgestorben waren, konnte der Salzburger Erzbischof Eberhard II. deren Grafschaft größtenteils für sich gewinnen. Den Erwerb der Grafschaft Lebenau sicherte der Salzburger Erzbischof 1245 im ersten Vertrag von Erharting (mit dem bayerischen Herzog) rechtlich ab. Als Gegenleistung musste er auf die Erwerbung der Lehen des Pfalzgrafen Rapoto von Ortenburg, des Grafen Konrad von Wasserburg und der Grafen von Falkenstein um den Chiemsee verzichten. Damit gab er sein ursprüngliches Ziel auf, seine Herrschaft über den Chiemgau bis an den Inn auszudehnen. Der Chiemgau mit Traunstein fiel an die Wittelsbacher. Im zweiten Vertrag von Erharting (1275) erkannte der bayerische Herzog die Westgrenze des Salzburger Herrschaftsgebiets weitgehend an. Diese Grenze bestand im Wesentlichen bis 1810, als das Land Salzburg an Bayern fiel.
Ein kleines Gebiet des Rupertiwinkels, westlich des Waginger Sees, gehörte ursprünglich zum Chiemgau. In den Güterverzeichnissen des 8. Jahrhunderts erscheinen die Orte Waging und Otting als im Chiemgau gelegen, während das benachbarte Tettelham zum Salzburggau zählte. Auch das Dorf Moosham (heute Stadt Trostberg) bei Lindach und Gumpertsham bei Heiligkreuz (Trostberg) gehörten nach schriftlichen Quellen des 10. Jahrhunderts zum Chiemgau. Seit dem Erhartinger Vertrag (1275) lagen diese Orte im Herrschaftsgebiet des Salzburger Erzbischofs und zählen deshalb heute zum Rupertiwinkel.
Ober- und Niederbayern - Rentämter München und Burghausen
In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts entstanden die bayerischen Land- und Pfleggerichte Rosenheim, Kling, Marquartstein und Traunstein. Das 1273 erstmals erwähnte Land- u. Pfleggericht Rosenheim war eine niederbayerische Exklave in zunächst oberbayerischem Gebiet. Nach der Wiedervereinigung der bayerischen Teilherzogtümer 1506 wurde es Teil des Rentamts München. Das Priental mit den Herrschaften Hohenaschau und Wildenwart und das Pfleggericht Kling nördlich des Chiemsees gehörten zunächst zu Oberbayern, ab 1392 zu Bayern-Ingolstadt und ab 1447 zu Bayern-Landshut. Nach 1506 kam das Gebiet zum Rentamt Burghausen. Die Gerichte Traunstein und Marquartstein lagen von 1255 bis 1506 in Niederbayern (Bayern-Landshut) und fielen dann an das Rentamt München.
Salzachkreis - Isarkreis - Oberbayern
Mit der Bayerischen Verfassung von 1808 erfolgte die systematische Einteilung des nunmehrigen Königreichs Bayern in Kreise, die den heutigen Bezirken entsprachen. Reichenhall, Traunstein und Rosenheim lagen im Salzachkreis mit der Hauptstadt Burghausen.
Als das Land Salzburg 1810 an Bayern gefallen war, wurde es dem Salzachkreis angeschlossen und die Kreisregierung in die Stadt Salzburg verlegt. Geführt wurde die Verwaltung des Salzachkreises vom Generalgouverneur Kronprinz Ludwig von Bayern, dem späteren König Ludwig I., welcher im Schloss Mirabell residierte. Der Salzachkreis war einer der neun bayerischen Verwaltungsbezirke, der neben altbayerischen Gebieten das Land Salzburg, Berchtesgaden, einen Teil Oberösterreichs (darunter das südliche Innviertel) und das Landgericht Kitzbühel in Tirol umfasste. Rosenheim und der Chiemgau westlich von Chiemsee und Alz gehörten nun zum Isarkreis.
Nachdem Salzburg 1816 an Österreich übergegangen war, wurde der bayerische Salzachkreis 1817 aufgelöst. Die bisher zum Salzachkreis gehörigen Gebiete wurden dem Isarkreis mit der Kreishauptstadt München angegliedert. Im Jahr 1837 ließ König Ludwig I. das Benennungssystem der bayerischen Kreise nach Flussnamen durch historisierende Bezeichnungen ersetzen, die die Geschichte der bayerischen Landesteile widerspiegeln sollten. Der Isarkreis wurde in Oberbayern umbenannt.
Kirchliche Organisation
Die Erzdiözese Salzburg umfasste auch das Gebiet östlich des Inn im heutigen Bayern. Das waren der Chiemgau, der Rupertiwinkel und das Landgericht Reichenhall. Von 1816 bis 1822 wurden die Diözesangrenzen an die Staatsgrenzen angeglichen. Das bayerische Gebiet fiel nun in die Zuständigkeit des Erzbistums München und Freising.
Innerhalb der Erzdiözese Salzburg existierte von 1216 bis 1817 das Salzburger Eigenbistum Chiemsee. Der Sitz der Bischöfe von Chiemsee war das Augustiner-Chorherrenstift Herrenwörth auf der Herreninsel im Chiemsee. Sie waren die Weihbischöfe der Salzburger Erzbischöfe und hatten deshalb in Salzburg eine ständige Residenz, den Chiemseehof. Das Bistum Chiemsee umfasste nur zehn Pfarreien westlich und südlich des Chiemsees: Herrenchiemsee, Prien, Eggstätt, Söllhuben und Grassau im Chiemgau. Sowie Söll, Kirchdorf, St. Johann, Brixen im Thal und St. Ulrich am Pillersee.
Literatur
Tertulina Burkard, Historischer Atlas von Bayern, I, 15, Landgerichte Wasserburg und Kling, 1965
Diepolder, van Dülmen, Sandberger, Historischer Atlas von Bayern, I, 38, Rosenheim, 1978
Heinz Dopsch, Hans Spatzenegger, Geschichte Salzburgs, 1999, Band I/1, S. 169-172, 209, 337-346
Richard van Dülmen, Historischer Atlas von Bayern, I, 26, Traunstein, 1970, S. 6, 39, 58, 94
Fritz Losek, Notitia Arnonis und Breves Notitiae, die Salzburger Güterverzeichnisse aus der Zeit um 800, MGSLK 130/1990
Alfred Mayer, Die Land- und Pfleggerichte, in: Heimatbuch des Landkreises Traunstein, I, Historischer Teil, S. 261 ff., 271
Johann Andreas Schmeller, Bayerisches Wörterbuch, 1837 (2. Aufl. 1877), Sp. 853-857
Franz Tyroller, Der Chiemgau und seine Grafschaften, München 1954
Ludwig Zehetner, Bairisches Deutsch, Lexikon der deutschen Sprache in Altbayern, 2018, S. 137
Links
Gau, Begriffserklärung. Historisches Lexikon Bayerns [1]
Historischer Atlas von Bayern: Traunstein [2], Rosenheim [3], Kling [4]
Historischer Verein für den Chiemgau, Traunstein [5]
Bearbeitung: Andreas Hirsch