Ortenau, Gustav

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Dr. Gustav Ortenau
Pension "Hygiea"

Gustav Ortenau, Dr., *18. Mai 1864 in Fürth; † 4. Juni 1950 in Florenz

Er wurde als zweites Kind des Notars Dr. Ignaz Ortenau, Vorsitzender der Israelitischen Kultusgemeinde Fürth, und dessen Ehefrau Clementine geb. Seligmann, aus einer Wiener Kaufmannsfamilie stammend, geboren. Beide waren jüdischen Glaubens.

1875 übersiedelte die Familie nach München, wo Ignaz Ortenau die Nachfolge eines königlichen Notars antrat und u. a. als juristischer Berater des Bayerischen Prinzregenten Luitpold fungierte.

Von 1882-87 studierte Gustav Ortenau Humanmedizin an der dortigen Universität und schloss mit der Promotion ab. 1890 ließ er sich als Lungenfacharzt in Bad Reichenhall nieder. Seine Wohnung und Praxis befand sich in einem Haus am Parkweg (heute: Adolf-Bühler-Weg), wo er in deutscher, englischer, französischer und italienischer Sprache ordinierte. Außerhalb der Bad Reichenhaller Kursaison betrieb er vom 15. Oktober bis 1. Mai eines jeden Jahres seit 1893 in Nervi (östlich von Genua) an der italienischen Riviera di Levante ein Kursanatorium – die aus zwei Villen bestehende Heilanstalt „Hygiea“ –, das vor allem für Lungenkranke eingerichtet war. Wie kein anderer Reichenhaller Badearzt tat sich Ortenau politisch hervor, indem er sich für maßgebliche Investitionen des aufstrebenden Königlichen Bades engagierte. Er war immerhin der erste, der noch vor Beginn des Ersten Weltkriegs erstmalig die Vision aufbrachte, Bad Reichenhall könne Garnisonsstadt für eine Gebirgstruppe werden, obwohl es eine solche Kampfeinheit im Deutschen Reich noch gar nicht gab. 1912 setzte sich der Arzt mit der damals in Bad Reichenhall leidenschaftlich diskutierten Frage auseinander, ob das Staatsbad ein Weltkurort sei. Sein Einfluss ging über den medizinischen hinaus und wurde auch auf politisch-gesellschaftlicher Ebene wahrgenommen. Gustav Ortenau galt als belesen, er betätigte sich auch selbst als Literat. „Die Göttliche Komödie“ von Dante Alighieri beispielsweise übersetzte er vom Italienischen ins Deutsche – zu einem Zeitpunkt, als es unschicklich war, nichtdeutsche Literatur zu lesen. Sein Schreibtisch war jener, der vor 1847 dem deutsch-jüdischen Dichter Heinrich Heine gehört hatte und über dessen Arzt Leopold Wertheim, den Großvater Gustav Ortenaus, an ihn gelangt war. Auf diesem Weg kam Heinrich Heines Schreibtisch um 1890 nach Bad Reichenhall und nach der Flucht der Familie vor den Nationalsozialisten 1939 über Basel schließlich nach Jerusalem, wo er im dortigen Nationalmuseum bis heute das „Deutsche Zimmer“, auch genannt „Ortenau-Room“, ziert.


Im Jahr 1904 heiratete Dr. Ortenau die Kunstmalerin und Bildhauerin Adele Peiser. Das Ehepaar hatte die beiden Kinder Irma (1905–1956) und Erich (1912–1995). Der Mediziner besaß ab 1893 das Lungensanatorium „Hygiea“ in Nervi bei Genua, das er jeweils in den Monaten von Oktober bis April leitete, während er in den Sommermonaten in Bad Reichenhall praktizierte.

Bereits 1896 war Dr. Ortenau zum Stabsarzt befördert worden; 1909 war er aus dem Dienst der Landwehr entlassen worden. Dennoch meldete er sich im Ersten Weltkrieg als Kriegsfreiwilliger, wurde 1915 zum Oberstabsarzt ernannt, nachdem er kurz vor Kriegsbeginn zum Sanitätsrat aufgestiegen war. Als Anerkennung für Pflichterfüllung und für sein unerschrockenes Verhalten bei der Versorgung Verwundeter in vorderster Linie während der Vogesenkämpfe erhielt Dr. Ortenau 1916 das Eiserne Kreuz II. Klasse.


In Bad Reichenhall war der couragiert auftretende Dr. Ortenau eine angesehene Persönlichkeit. Wiederholt behandelte er Bedürftige unentgeltlich. Trotz der damals bereits stark antisemitisch geprägten NS-Ideologie gelangte zu Ortenaus 70. Geburtstag am 18. Mai 1934 folgende Gratulation im „Reichenhaller Tagblatt“ zum Abdruck: „Wegen seiner aufopfernden Hilfsbereitschaft, die ihn Tag und Nacht sich in den Dienst seiner Kranken stellen heißt, hat er sich große Beliebtheit erworben. Namentlich die Armen unserer Stadt haben an ihm einen warmen Freund und selbstlosen Helfer gefunden. Mögen dem verdienten Arzt und Menschenfreund noch lange Jahre seiner segensreichen Tätigkeit vergönnt sein.“

Während der reichsweiten Pogromnacht am 9. November 1938 wurden die Fenster der Ortenaus von dafür engagierten Trupps eingeworfen. Im Interview mit der BILD-Zeitung vom 8. Nov. 1988 sagte der Ortenaus Sohn Erich: „Als wir am nächsten Morgen, den 11. Nov. 1938 die Haustür öffneten, lagen da Schachteln mit Lebensmitteln und Kuverts mit Geld. Die Reichenhaller Bürger hatten das im Schutze der Nacht hingelegt. Das tat uns seelisch und wirtschaftlich gut, denn unser Bankkonto war gesperrt.“ Der Glasermeister Begsteiger reparierte die Fenster auf eigene Kosten.

Bereits am 1. Oktober 1938 war Dr. Ortenau, wie allen anderen Ärzten jüdischen Glaubens, die ärztliche Approbation entzogen worden. Nach Aussage von Erich Ortenau fiel es der Familie, die über Generationen mit Bayern eng verbunden gewesen war, sehr schwer, die Heimat zu verlassen, um vorübergehend bei Verwandten in der Schweiz unterzukommen. Im Mai 1939 verkauften Gustav und Adele Ortenau unter dem Druck der Verhältnisse ihr Haus und ließen zwangsweise Kunstgegenstände und Schmuck zurück. Als das Ehepaar zum Bahnhof ging, um von dort die Reise ins Exil nach Basel anzutreten, wartete am Bahnsteig bereits eine große Menschenmenge, die gekommen war, um sich von ihnen zu verabschieden.

Es wurde ein Abschied für immer und er steht symbolhaft für das Schicksal der Juden in Deutschland, die zumindest das Glück hatten, dem Nationalsozialismus mit heiler Haut entkommen zu sein. Als Bad Reichenhall in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs von US-amerikanischen Bombern angegriffen wurde, kam hier das Gerücht auf, der greise Gustav Ortenau habe von Basel aus durch einen Appell an die Alliierten via Radio Beromünster die Kur- und Salinenstadt vor einer noch größeren Zerstörung bewahrt. – Einen solch positiven Einfluss trauten ihm die Reichenhaller offenbar immer noch zu, so Erich Ortenau. Nach Kriegsende lebte das verarmte Paar Dr. Gustav und Adele Ortenau zunächst in Rom bei ihrer Tochter Irma, die dort während des Kriegs im Untergrund überlebt hatte. Ab 1950 lebte das Paar in Florenz, wo Dr. Ortenau kurz darauf verstorben ist. Am 9. Oktober 1985 besuchte der damalige Bundesspräsident Richard von Weizsäcker während seiner Israelreise den nach Gustav Ortenau benannten „Ortenau-Room“. Auf Initiative der SPD Bad Reichenhall erfolgte 1989 die Umbenennung des an das ehemalige Wohnhaus der Ortenaus angrenzenden Parks als „Ortenau-Park“, verbunden mit einer Erinnerungstafel an den verdienten Bad Reichenhaller Arzt jüdischen Glaubens.


Quellen

Germanisches Nationalmuseum /Haus der Bayerischen Geschichte (HG.), Siehe der Stein schreit aus der Mauer, Nürnberg 1988, S. 422-423.

Johannes Lang, Geschichte von Bad Reichenhall, Neustadt an der Aisch 2009, S. 747-760.

Johannes Lang, Vom „Judenbad“ zum „judenfreien“ Staatsbad. Jüdische Kurtradition und Bäderantisemitismus in Bad Reichenhall, in: Nürnberger Institut für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts e.V. (Hg.), Beiträge zur deutschen und jüdischen Geschichte 2014, Bd. 7, Nürnberg 2014, S. 135-152.

Johannes Lang, Elias Canettis Abneigung gegen Strindberg. Vor 100 Jahren: Ein geheimnisvoller Bad Reichenhaller Kurarzt prägte das Schicksal des späteren Nobelpreisträgers, in: Heimatblätter 8/2012.

Susanna Schrafstetter, Flucht und Versteck: Untergetauchte Juden in München – Verfolgungserfahrung und Nachkriegsalltag, Göttingen 2015.

Schoßig Bernhard / Gudrun Azar (Hg.), Ins Licht gerückt. Jüdische Lebenswege im Münchner Westen, München 2008.

Josef Wysocki, Leben im Berchtesgadener Land 1800–1990, Bad Reichenhall 1991, S. 270-271.


Bearbeitung: Marlies Mittermeier / Johannes Lang