Kleidung im Reichenhaller Raum (ab 1500)

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Mirakeltafel Marienkirche Großgmain, 1513

Das Wort „Tracht“ bezeichnet ursprünglich das Getragene, die getragene Kleidung. Heute versteht man darunter das meist ländliche Fest- (und Alltags-)gewand, welchem man – im Gegensatz zur städtischen modischen Kleidung - eine lange Tradition unterstellt.

Vor dem 17. Jahrhundert unterschied sich das Gewand regional kaum. Zwischen Stadt- und Landbewohnern bestanden Unterschiede in Material, Farben und Verzierung, weniger im Schnitt. Die jeweiligen Stände trugen unterschiedliche Kleidung, eiferten jedoch den Fürstenhöfen in Sachen Mode nach. Neuerungen übernahmen zunächst die Adeligen, dann die Bürger und schließlich die Handwerker und Bauern. Auf diese Weise erreichten die Modeströmungen mit zeitlicher Verzögerung alle Schichten der Bevölkerung. Das Erscheinungsbild der Kleidung hing ab vom wirtschaftlichen Wohlstand der Bevölkerung und vom textilen Handwerk der Gegend. In der Region um Reichenhall wurde aus Flachs Leinen und aus Wolle Loden hergestellt. Außerdem wirkten sich verschiedene Einflüsse von außen und Kleiderordnungen des Landesherrn auf die Entwicklung der orts- oder standesüblichen Tracht aus.

Die frühesten Darstellungen von Kleidung im Reichenhaller Raum finden sich auf den Mirakeltafeln von 1513 in der Wallfahrtskirche Großgmain: Die Frauen tragen ein bodenlanges, langärmeliges Kleid und ein Gebände (Kopftuch), die Männer Rock oder Wams und eng anliegende Beinlinge. Ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts kam die spanische Hoftracht in Mode. Ihre Pluderhosen und Halskrausen dominierten noch zu Anfang des 18. Jahrhunderts die Kleidung der Männer in Reichenhall. Seit dem späten 17. Jahrhundert galt die französische Hofmode aus Versailles als Vorbild für Europa. Bei den Männern bestand sie aus dem langen Rock „Justaucorps“, der Weste „Gilet“ und der Kniebundhose „Culotte“. Frauen trugen einen knöchellangen Rock, eine Schnürbrust (Mieder) und eine T-förmig geschnittene Jacke mit kurzen oder langen Ärmeln. Zur Arbeit wurde eine Schürze umgebunden. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts gelangte diese Mode in vereinfachter Form ins Reichenhaller Tal. In den 1780er Jahren führte Johann Sebastian Clais Reformen an der Reichenhaller Saline durch. Dabei waren auch eigene Uniformen für das Salinenpersonal vorgesehen. Die heutige Salzbruderschaft trägt weiß-blaue Knappenuniformen.

Mirakeltafel Wallfahrtskirche Feldkirchen (Ainring), 1615

Der Niedergang der landschaftsgebundenen und standesgemäßen Kleidung begann an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert und vollzog sich in wenigen Jahrzehnten. Durch die Ideen der Aufklärung gerieten die Vorschriften ins Wanken, welche seit Jahrhunderten die Kleidung der verschiedenen Stände geregelt hatten. Und in den Jahren nach der Französischen Revolution verloren sie rasch an Bedeutung. Die Bevölkerung auf dem Land begann, sich an internationaler Mode zu orientieren. Außerdem waren die industriell hergestellten Stoffe (z.B. Baumwolle) günstig zu kaufen und die Schnitte der „städtischen“ Mode bequemer zu tragen als die nun als altmodisch geltende herkömmliche Kleidung.


Volkstracht von Königs Gnaden

Um eine Wiederbelebung der alten Trachten in den verschiedenen Gegenden des Königreichs bemühte sich bereits König Ludwig I. von Bayern. Er erkannte in der Pflege der Tracht und der Bräuche ein Mittel zur Stärkung des bayerischen Nationalgefühls, besonders für die neu hinzugekommenen Gebiete in Franken und Schwaben. Dabei sollten diese Gebiete nicht angeglichen, sondern ihre eigene Kultur bewahrt und gefördert werden. Bei der Silbernen Hochzeit Ludwigs I. und seiner Gemahlin Königin Therese 1835 waren einzelne bayerische Landgerichte mit Trachtengruppen vertreten, die in einem langen Festzug am Königszelt auf der Theresienwiese vorbeizogen. Zur Vermählung des Kronprinzen Maximilian, des späteren Königs Maximilian II., mit Prinzessin Marie von Preußen im Jahre 1842 wurden 35 Brautpaare aus ganz Bayern eingeladen. Diese mussten in ihrer heimischen Tracht erscheinen und durften alle in ihrer Heimat üblichen Begleitpersonen, wie Hochzeitslader oder Kranzljungfrauen, mitbringen. Derartige Veranstaltungen sollten die tiefe Verbundenheit der Bevölkerung mit dem Königshaus demonstrieren. Das Landgericht Reichenhall war dabei mit einem Brautzug und Gebirgsschützen vertreten. Da jedoch nicht genügend Kleidungsstücke für den Brautzug aufzutreiben waren, mussten verschiedene Einzelteile nachgeschneidert werden.

Votivtafel in St. Pankraz, Karlstein, 1708

König Maximilian ließ 1852 durch die Regierungen in den Landgerichten ermitteln, „in welchen Gegenden… sich noch die alte Tracht der Bürger- und Landleute erhalten hat und auf welche Weise… getreue Abbildungen erhalten werden könnten.“ Der Regierungspräsident antwortete: „Die Volkstrachten werden hauptsächlich durch die Richtung der Produktion und der Industrie des Landes bestimmt und unterliegen – gleich den Anzügen der höheren Stände – allmählich der Neuerung, die sich auf Wohlfeilheit (kostengünstig) und Zweckmäßigkeit gründen. Diesen Einwirkungen gegenüber wird es immer eine schwierige Aufgabe bleiben, alle alther gekommenen Volkstrachten fortan zu erhalten, abgesehen davon, daß einige derselben namentlich bei dem weiblichen Geschlechte, auf die körperliche Entwicklung nachteilig einwirken oder die finanziellen Kräfte der Gegenwart übersteigen.“ Als Ergebnis der Erhebung für das Landgericht Reichenhall konnte er mitteilen: „Außer den Gebirgsschützen hat sich in diesem Bezirk eine eigentümliche Tracht nicht erhalten.“ Die Kleidung dieser Zeit, die wir heute als Tracht bezeichnen würden, entsprach nicht den damaligen Vorstellungen von einer über einen langen Zeitraum tradierten, ehrwürdigen „Nationaltracht“ oder „Volkstracht“.

Der Schriftsteller und Ethnograph Joseph Friedrich Lentner erstellte im Auftrag des Kronprinzen bzw. Königs zwischen 1846 und 1851 eine ethnographische Bestandsaufnahme des Landes.  Dabei stellte er fest, dass die Trachten im Laufe der Zeit Veränderungen durchliefen und sich auch im Landgericht Reichenhall etwa alle 30 Jahre - spätestens mit jeder nachfolgenden Generation - Neuerungen durchgesetzt hatten. Um 1800 herrschten demnach noch Leinen- und Lodenstoffe vor. Zwanzig Jahre später war Barchent (Mischgewebe aus Leinen und Baumwolle) üblich geworden und um 1850 trugen die Frauen Kordon (Cord), Seide und verschiedene Baumwollstoffe. Bei den Männern war um 1800 die lederne Bundhose verbreitet, welche nach 1820 allmählich von der kurzen Lederhose abgelöst wurde:

Votivtafel in St. Pankraz, Karlstein, 1746

„Vor 50 Jahren (um 1800) trug der Bauer des Sonntags einen weißen Leinenkittel ohne Kragen mit weißen Metallknöpfen, keine Weste, sondern einen grünen Hosenträger, den 6 Zoll breiten Gurt (Ranzen) mit Zinnstiften beschlagen, einen Flor (Tuch) 4-5 mal um den Hals, lederne Hosen, weiße Strümpfe und Riemenschuhe. Des Winters war der Rock von grauem Loden, und dazu kam eine rothe Weste. Reiche Bauern hatten an den Festtagen Röcke von Scharlach, mit Silberknöpfen, ein grünes oder rothes Leibl neben den Spiegelknöpfen mit Borten besetzt. Im Wirtshause erschienen die Männer meist mit rothen oder grünen Jacken und trugen dazu Schlegelhauben von grünen oder geschlagenem Sammt von der Form, wie sie heute noch bei alten Wirthen üblich sind, jedoch nur die Hälfte niederer. Der Hut war groß und nieder von einer seidenen Borte mit Quasten umschlungen, die sich durch eine Filigranschnalle zog. Die Buben trugen diese meist grün. Als Mantel brauchte man den weißwollenen Ueberwurf, hier Wagnerkittel genannt.

Vor 30 Jahren (um 1820) ward aus dem zwilchenen ein brauner Tuchrock mit stehendem Kragen und kurzer Taille und langen Flügeln; des Sommers aus braunem oder schwarzen Barchent (Leinen-Baumwoll-Mischgewebe) gefertigt roth oder grün gefüttert mit 2 Reihen eng aneinandergesetzter Metallknöpfe. Der Alltagskittel blieb von Loden, die Westen wurden ganz kurz, hatten 2 Reihen Geldknöpfe und einen stehenden Kragen. Die Lederhosen reichten hoch herauf, der Gurt wurde schmäler und mit Pfaufedern gestickt, der Hut verkleinerte sich. Die Buben trugen meist sehr kurze Jacken, vielfach grün mit blauem Futter.

Heutzutage (um 1850) besteht die Festtracht in dem gewöhnlichen braunen oder grünen Tuchrock, in einem seidenen Gilet, kurzen Lederhosen, Strümpfen und Schuhen. Des Sonntags ist der Rock von schwarzem Barchent (Leinen-Baumwoll-Mischgewebe); der schwere Wintermantel von dunkelblauem oder grauem groben Tuch; der Hut besteht in einem Cylinder von 10 Zoll Höhe mit einer 6 Zoll breiten Krempe und ist mit einer Goldschnur verziert. Im Winter sieht man viele Pelzhauben. Unter den Buben ist der Spenser geläufig, hie und da auch die lange Tuchhose; sonst trägt alles, besonders beim Tanze kurze Lederhosen. Der Hut der Männer ist bei ihnen dunkelgrün gefärbt, viele aber lieben jetzt die Miesbachertracht, tragen dazu eine rothe Weste und häufig grüne Strümpfe.

Placidus-Altar, ehem. Stiftskirche Höglwörth, Ende 18. Jh.

Die ältere Frauentracht vor 30-40 Jahren (um 1820) bestund in einer schwarzen Wollhaube, an Festtagen von schwarz und scharlachgestreiftem Mazelin bis an die halbe Wade reichend und ließ so die weißen Strümpfe und den Schnallenschuh sehen. Das spitze Mieder mit dem Latz war von rothem Tuch mit Goldborten und Silberhaken besetzt und blausedenem Riemen verschnürt.

Darunter wurde eine Jacke gezogen von hellrothem Tafft, am Halse mit Goldspitzen besetzt, und über selbes ein farbiges Tuch durch einen Ring geschlungen, um den Hals selbst kam der Flor mit der Silberschnalle; um das Mieder zu schonen, wurde beim Tanze ein leichtes Schalkei mit kurzen Aermeln vorne mit Knöpfen zu schließen angezogen.

Als Kirchentracht kam über das Mieder ein Schalk von schwarzem Kordon mit einem kleinen rückwärts in Falten gelegten Schoß, doch wurde dieses Ueberkleid nur mit den 2 untern Knöpfen geschloßen, damit der Brustlatz sichtbar blieb. Dem Kopf bedeckte das Ohrhäublein und darüber ein weißer Hut mit schwarzem Seidenfutter, das über de3n Rand geschlagen nahe bis an den Gupf reichte. Von innen war das Futter mit einem Goldspitz umzogen. Die Krämpe hatte 6 Zoll Breite und den fast eben so hohen Gupf umschlangen 4 Zoll hohe schwarze Bänder, die in einer Schleife herabfielen und an ihren Enden mit Goldspitzen besetzt waren.

Die heutige Zeit (um 1850) hat auch diese Tracht modernisiert; das Mieder im Unterinnthalerschnitt von dunklem Seidenzeug ist mit Goldborten verbrämt, um Hals und Nacken kommt eine Silberne Kette und ein buntes Seidentuch; das dunkle Korsett mit Gigotärmeln (Keulenärmel, Oberarm sehr weit, Unterarm sehr eng) und Rock werden aus Merino oder Halbseide gefertigt und am Haupte trägt man die übermäßige Pelzhaube des Chiemgaues oder den grauen Hut, der von einer schwarzen Seidenschnur mit Goldtroddeln verziert wird. Die Mädchen wählen zum Putze gewöhnlich rothe Persröcke (Baumwolle) und grüne Schürzen, das Korsett dunkel; vielfach wird das Kopftüchel getragen, an Festtagen Pelzhaube oder Hut.

Zur Jungfrauentracht gehört außer den weißpercalenen Unterröckl (Unterjacke) und der weißen Schürze der Goldbund („Böndl“), ein ovales Häubchen, das den Zopf bedeckt, aus reicher Goldstickerei mit einer breiten Goldspitze rings umzogen; unter der Nadel, die den Bund festhält, wird ein Rosmarinkranz durchgeschlungen. Die Braut trägt den Gürtel und zur Trauer schlingt man den Klagschleier um Brust und Rücken, doch bleibt hier das Gesicht frei.“

Mehrere Maßnahmen des Königs zur Förderung der Trachten, wie etwa Prämien für Brautpaare, die sich in Landestracht trauen ließen, brachten nicht den erhofften Erfolg. Weitaus wirksamer war das Auftreten der Wittelsbacher in Tracht bei der Jagd. Ebenso wie die Habsburger haben sie die praktische Kleidung ihrer Jäger übernommen, wodurch sie in den höchsten Kreisen salonfähig wurde. Selbstverständlich hatte man die königlichen Kleidungstücke aufwendiger gestaltet und verziert, was sich wiederum auf die Gestaltung des Gewands der Jäger auswirkte. Das Arbeitsgewand der Holzknechte im Gebirge (vornehmlich Tirols) bestand aus kurzer Lederhose aus Schaf- oder Ziegenleder und Joppe. Die alpenländische Lederhose geht in ihren Ursprüngen auf die „Culotte“ die französische Kniebundhose der Barockzeit zurück, die im 18. Jahrhundert in ganz Mitteleuropa in fast allen Bevölkerungsschichten die übliche Hose darstellte.

Brautzug aus dem Landgericht Reichenhall, Festzug der 35 Brautpaare, 1842

Der General-Oberarzt und Sanitätsrat Dr. Carl Emanuel Gabriel von Heinleth (1863-1952) lebte mehrere Jahre in Reichenhall. Über seine Erlebnisse in den 1880er Jahren in der Salinenstadt berichtete er 1934 in einer Zeitung: „Nur hin und wieder stieß man tief im Gebirge auf einen Jäger oder Holzknecht in der Lederhose.“ Als Befürworter der Tracht ging er eines Sonntags angetan mit seiner Lederhose zur Messe: „Ich war tatsächlich dortmals in Reichenhall der Einzige und der Erste, der wieder eine Lederhose trug. Die Mannsleute und Burschen…tuschelten, schauten auf mich hin, und etliche meinten ,Schaugts eahm an!‘  Bald hatte ich auch einen Freund zur Lederhose überredet, und jetzt waren wir schon zwei. Wir besuchten auch allerhand, und die Reichenhallerinnen tanzten mit uns lustigen und luftigen Lederhosernen recht gern, ja auffällig gern. Mancherlei hatten wir damals natürlich auch von den Fremden zu leiden, denn sie hielten uns für die einzig echten Ureinwohner, für Halbwilde, schwere Raufbolde und sagenhafte Wildschützen, und manche Dame hat uns mit der Hand am Mund, das Lorgnon vor den Augen, mit scheuer, ängstlicher Neugier bestaunt, uns und vor allem die gamslederne Haut, die wir als Hose trugen: „Ist das nicht ganz zum Gruseln, eine Haut als Hose, wie die Wilden…“ Tatsächlich galten sichtbare Knie noch länger als unschicklich. Die Kirche stand der Trachtenbewegung skeptisch oder sogar ablehnend gegenüber, da sie ihr unter anderem wegen der Kleidung und den Tänzen Sittenlosigkeit unterstellte. Die Treffen und Ausflüge von jungen Erwachsenen beiderlei Geschlechts ohne Aufsicht von Geistlichen oder bürgerlichen Honoratioren galten als moralisch bedenklich.


Trachtenvereine

Reichenhaller Gebirgsschützen, 1848

Obwohl sich bereits 1871 in Graz ein Trachtenverein gründete, gilt Oberbayern als Wiege der Trachtenbewegung. In Bayrischzell entstand 1883 mit dem „Verein zur Erhaltung der Volkstrachten im Leitzachtal“ durch den Lehrer Josef Vogl (1848-1886) offenbar ein reiner Männerverein, in dem Frauen zunächst keine Rolle spielten. In der Folge gründeten sich im oberbayerischen Alpengebiet zahlreiche Vereine, die eine nach dem Vorbild der von Jägern und Holzknechten getragenen, sowie an ältere Tiroler Kleidungsformen angelehnte Tracht propagierten. Die so genannte „Miesbacher Tracht“ verbreitete sich so in ganz Altbayern und darüber hinaus. Dieses Gewand wurde von der seit 1853 bestehenden Miesbacher Schuhplattlergruppe „Gesellschaft Gemüthlichkeit“ getragen und stand bereits zur Mitte des 19. Jh. auch im Landgericht Reichenhall in Mode. Als Vereinszweck der Trachtenvereine galt „der Erhalt der Gebirgstracht, der Mundart und der alten Sitten und Gebräuche“. Außerdem führte man den Schuhplattler als Schautanz im bayerischen Alpengebiet ein. Ab 1893 entstanden im Reichenhaller Tal mehrere Vereinigungen, wie „D`Hohenstauffener“, „D´Schlegler“, die „Kirchhölzler“ und die „Almrausch-Gmoa“, die sich später in „Edelweisser“ umbenannte. Beim ersten Trachtenumzug zum Oktoberfest 1895 nahm auch eine Abordnung aus Reichenhall teil.  Am 18. Juni 1900 gründete sich der „GTEV Lustige Saalachthaler“. Die Marzoller Trachtler gründeten den Verein D´Grenzler 1901, in Karlstein entstanden 1907 D´Kranzlstoana und in Bayerisch Gmain D`Lattenberger 1908.


Tracht und Tourismus

Die 1839 erfundene Fotografie verbreitete sich ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Fremdenverkehrsorten der Bayerischen Alpen. In Reichenhall bot der Fotograf Matthias Welker seit 1858 während der Sommersaison seine Dienste an. Ab Mitte der 1860er Jahre entstanden dann mehrere Ateliers, die sich in der Kurstadt etablierten, wie Franz Greiner, Johann Scherle, Hans Kurz, Julie Madlseder, Heinrich Fritz, P. Schmid und das Atelier Gaus. Die überwiegende Mehrheit der ReichenhallerInnen ließ sich nicht in Tracht, sondern in damals üblicher bürgerlicher Kleidung fotografieren, Herren auch öfter in Uniform. Neben Einheimischen ließen sich viele Sommerfrischler in den Ateliers vor einer Gebirgskulisse in Tracht ablichten, welche sie vom Fotografen für die Aufnahme ausleihen konnten. Die Urlaubsgäste erwarteten bei ihrem Aufenthalt das „Echte“ zu erleben und damit Alpenbewohner in Tracht. Diese kamen den Erwartungen vor allem aus wirtschaftlichen Gründen nach. Viele Gäste besorgten sich für Ihren Urlaub in den Bergen bereits zuhause – etwa beim Berliner Kaufhaus Wertheim - die passende Garderobe. Führend bei der Ausstattung mit alpenländischer Kleidung war die 1900 gegründete Firma Wallach in München. Dort konnte man auch das um 1870 entstandene Dirndlgwand, heute meist Dirndl genannt, erwerben. Es entwickelte sich aus der bäuerlichen Unterkleidung, die von der Dirn (Magd) und jungen Mädchen als leichtes Arbeitsgewand getragen wurde. Durch das Singspiel „Im weißen Rößl“ (1930) wurde es international bekannt und schließlich als typisch für den österreichischen und bayerischen Alpenraum angesehen.

Eine durch Tourneen in ganz Deutschland bekannte Institution war das Reichenhaller Bauerntheater unter der Leitung von Josef Meth, das die Vorstellungen der Theaterbesucher vom Leben im „Gebirg“ nachhaltig prägte. In den Touristenorten traten regelmäßig Trachtenvereine sowie Volkstanz- und Sängergruppen auf. In der Kurstadt vermarktete Jakob Damhofers Sänger-, Jodler und Tänzer-Ensemble „D`Reichenhaller“ folkloristische Veranstaltungen mit Erfolg. Mitglieder des Gebirgstrachten-Erhaltungsvereins Taubenberger aus Holzkirchen führten den von ihnen ersonnenen „Watschenplattler“ zum ersten Mal öffentlich 1907 in Bad Reichenhall zur Unterhaltung der Sommerfrischler auf.

Gebirgsschützen-Oberleutnant Anton Kefer und Gattin Anna (mit Perlhaube), 1848

Perfektioniert wurde die alpenländische Unterhaltung in der Kurstadt durch den gelernten Kaminkehrer Hans Linder, der im August 1918 das Ausflugslokal „Schroffen-Alm“ erwarb und zur „Alpengaststätte Schroffen“ ausbaute. Linder schaffe es, dem Etablissement durch die Inszenierung von bayerischen Klischees Kultstatus zu verleihen. Der Geschäftsmann ließ im Saal der „Perle von Bad Reichenhall“ ein 30-köpfiges Musikensemble, die „Schroffengarde“ auftreten, organisierte Almtänze und Haberfeldtreiben zu Demonstrationszwecken. Neben dem Schroffen betrieb Linder noch das Berliner Wilhelmtheater, wo die Schroffengarde im Winter auftrat und die „Münchner Bierhalle“ in Köln. Dort wurden Gäste für den Sommeraufenthalt in Bad Reichenhall angeworben. Als 1931 eine auch für Busse befahrbare Straße auf den Schroffen angelegt worden war, stiegen die Gästezahlen weiter an. Linder war gewissermaßen zum „König der volkstümlichen Musik“ aufgestiegen, denn eine Karriere in diesem Metier führte fast zwangsläufig über den Schroffen. Die Vorstandschaft des Reichenhaller Trachtenvereins Saalachthaler lehnte wohl Auftritte auf dem Schroffen ab, da sie die dort gebotenen Veranstaltungen als nicht authentisch erachtete. Am 22. Juli 1922 spalteten sich mehrere Mitglieder, die anderer Meinung waren, vom Verein ab und gründeten auf dem Schroffen einen neuen Trachtenverein mit dem Namen „Alt Reichenhall“.


Tracht im Nationalsozialismus

In der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur wurden die Trachtenvereine ebenso „gleichgeschaltet“ wie alle anderen Organisationen. Auch die Bad Reichenhaller Trachtler mussten der NS-Massenorganisation „Kraft durch Freude“ beitreten. 1936 wurden die beiden Vereine der Stadt zwangsvereinigt. Das Regime instrumentalisierte neben den anderen Traditionsvereinen besonders die Trachtler, welche häufig die schmückende Staffage für nationalsozialistische Veranstaltungen abgeben mussten.In Salzburg und Tirol verbot man Juden das Tragen von Trachten; ein reichsweites Trachtenverbot für „nichtarische Personen“ kam wohl kriegsbedingt nicht mehr zustande.

Bericht von der Gründung des Trachtenvereins "Hohenstauffener" am 23. April 1893 im Reichenhaller Grenzboten

Das führende „Haus für Landestrachten“ der Brüder Julius und Moritz Wallach, das 1930 unter anderem Bühnenkostüme für das Singspiel „Im weißen Rößl“ geliefert hatte, wurde 1938 „arisiert“. Die Brüder Wallach mussten ihr Unternehmen zu einem Preis weit unter Wert an einen NS-Parteigenossen verkaufen und emigrierten mit ihren Familien in die USA. Der dritte Bruder Max Wallach, der Trachtenstoffe und Trachtenkleidung für seine Brüder hergestellt hatte, wurde enteignet und mit seiner Familie im Konzentrationslager Auschwitz ermordet.

In den 1920er Jahren hatte sich Adolf Hitler einige Male in kurzer Lederhose fotografieren lassen. Später untersagte er die Veröffentlichung dieser Bilder, weil er nicht als Provinzpolitiker erscheinen wollte. Auf Fotos und in Filmen vom Obersalzberg sieht man ihn im Anzug, während sich seine Gefährtin Eva Braun häufig im Dirndl ablichten ließ. Die damalige weite Verbreitung der Berchtesgadener Frauen-Strickjacke (schwarz mit roten und grünen Einfassungen), ursprünglich „Hemad“ genannt, dürfte auch auf die mediale Berichterstattung vom Obersalzberg zurückgehen. Vor allem aber war sie ab 1935 Teil der Uniform des Bund Deutscher Mädel (BDM) im „Gebiet Bayerisches Hochland“. Die in den 1920er Jahren in Berchtesgaden aufgekommenen weißen „gemodelten“ Strümpfe sind durch die Hitlerjugend in Deutschland bekannt geworden.


Tracht heute

Portraits aus den Reichenhaller Ateliers Franz Greiner, Johann Scherle und Hans Kurz, Ende 19. Jh. (ReichenhallMuseum)

Bereits in der Weimarer Republik hatte die bayerische Volkspartei (BVP) die Nähe der Trachtenverbände gesucht. Nach 1945 erkannte die CSU in ihnen Verbündete, die ihre wertkonservativen Grundsätze teilten. Die Trachtenvereine nutzten die parteipolitischen Annäherungen vorrangig aus strategischen Gründen zur Verfolgung der eigenen Ziele. Das von Bundespräsident Roman Herzog 1998 geprägte Schlagwort von „Laptop und Lederhose“ sollte die nach seiner Meinung geglückte Verbindung von technischem, wirtschaftlichem Fortschritt bei gleichzeitiger Bewahrung von Traditionen in Bayern verdeutlichen. Mittlerweile wurde es von der Präsidentin des bayerischen Landtags Ilse Aigner um die Formel „Dirndl und Digitalisierung“ ergänzt. Die oberbayerischen Gebirgstrachten werden als starkes Symbol für den gesamten Freistaat Bayern, dessen BewohnerInnen, die „bayerische Lebensart“ und Mentalität wahrgenommen. Sie gehören nach wie vor zu den bayerischen Klischees.

Es gibt keine spezielle Reichenhaller Tracht. Im Reichenhaller Tal bestehen sieben Gebirgstrachten-Erhaltungsvereine. Neben den Saalachthalern und den Alt Reichenhallern finden sich in Karlstein D´Kranzlstoana, in Marzoll D´Grenzler, in Bayerisch Gmain D`Lattenberger sowie in der Gemeinde Schneizlreuth D´Reiteralmer, Jettenberg (gegr. 1929) und D´Weikertstoana, Weißbach (gegr. 1924). Auch die 1983 wiedergegründete Gebirgsschützenkompanie Reichenhall leistet ihren Beitrag zum Trachtenwesen im Reichenhaller Tal. Die Trachtenvereine bewahren heute ihre jeweilige vereinheitlichte Vereinstracht, die einer Uniformierung oft sehr nahekommt. Ursprünglich trugen ihre Mitglieder voneinander abweichende Gewänder; nämlich das, was man besaß oder sich besorgen konnte. Der Vereinheitlichung des Erscheinungsbildes dient auch die Praxis von Trachtlerinnen, sich abgeschnittene Zöpfe zu einer Gretlfrisur aufzustecken, was für Kritiker mehr mit Maskerade zu tun hat, als mit Tradition.

Daneben gibt es seit Anfang des 20. Jahrhunderts die Trachtenmode, welche sich  dynamisch dem jeweiligen Zeitgeschmack und Zeitgeist anpasst. Seit etwa 2000 erlebt die Trachtenmode eine Blütezeit. In ihren extremen Ausformungen entfernt sich diese Kleidung sehr weit von dem, was sich traditionsbewusste Bayern unter Tracht vorstellen. Die Volkskundlerin Simone Egger befasste sich mit dem „Trachtenboom“ bereits 2008. Sie sieht darin den Wunsch nach Identität: „Es geht tendenziell darum, dass die Gesellschaft immer mobiler und flexibler wird und gleichzeitig doch nach Formen sucht, die identifizieren lassen.“ Die sogenannte „Wiesntracht“ gebe es zwar noch nicht lange, „Werte wie Heimat und Tradition werden aber gerade dann spürbar wichtiger, wenn Unsicherheit und Flexibilität weltweit anwachsen.“ Für Egger ist Tracht vor allem eine Projektionsfläche: „Die einen projizieren ein Bierdimpfl-Image, das sie von Bayern haben, hinein. Für andere ist sie ein Zeichen ihrer Wurzeln oder Verbundenheit. Die Gesellschaft macht Kleidungsstücke zu dem, was man darin sehen will.“


Quellenangaben

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Bezirk Oberbayern, Zentrum für Trachtengewand (Hg.): Tracht ist Mode, 2002

Erster Trachtenumzug anlässlich des Oktoberfests 1895, Teilnehmer aus Reichenhall (ReichenhallMuseum)

Der Grenzbote, 23.04.1893, 20.07.1922

Egger, Simone: Phänomen Wiesntracht, Identitätspraxen einer urbanen Gesellschaft, 2008

Grieshofer, Franz, Brandstätter, Christian, Hubmann, Franz: Die Lederhose, kleine Kulturgeschichte des alpenländischen Beinkleids, 1996

GTEV Saalachthaler, Bad Reichenhall: Festschrift 100jähriges Gründungsfest, 2000

Haus der Bayerischen Geschichte: Edition Bayern, Phänomen Tracht, 2010

Haus der Bayerischen Geschichte: Mythos Bayern. Wald, Gebirg und Königstraum, Katalog Bayerische Landesausstellung 2018

Hegenbart, Franz: Auf geht‘s, das Buch übers Schuhplatteln, 1990

Heimat- und Volkstracht-Erhaltungsverein Miesbach, Chronik, Homepage

Hofmann, Fritz: Doktor mit „Teufelskutsche“ und Lederhos’n, Heimatblätter 9/2002

Saal der "Alpengaststätte Schroffen" um 1930

Hofmann, Fritz: Festschrift Wiedergründung Gebirgsschützenkompanie Reichenhall, 1984

Köpf, Matthias: Wo das Gewand entstand, Süddeutsche Zeitung, 25.01.2018

Lang, Johannes: Geschichte von Bad Reichenhall, 2009

Laturell, Volker D.: Trachten in und um München, 1998

Prodinger, Friederike, Heinisch, Reinhard, R: Gewand und Stand, Kostüm- und Trachtenbilder der Kuenburg-Sammlung, 1983

Rattelmüller, Paul Ernst (Hg.): Lentner, Joseph Friedrich: Bavaria, Oberbayern: Die Landgerichte im Gebirge (1851), 1988

Roth, Hans: Aus den Anfängen der Trachtenpflege im Rupertiwinkel, in: Das Salzfass 1980/1

Schulz, Roland: Nüchtern betrachtet, Warum sollte die Globalisierung vor Brauchtum halt machen?, Süddeutsche Zeitung Magazin, 14.09.2014

Seifert, Manfred: Trachtenbewegung, Trachtenvereine, in Historisches Lexikon Bayerns, 2006

Tiroler Volkskunstmuseum (Hg.): Tracht, eine Neuerkundung, 2020

Wallnöfer, Elsbeth: How to wear a Dirndl, (k)eine Gebrauchsanleitung, 2024

www.bayerisches-nationalmuseum.de: Sammlung online

www.zentrum-trachtengewand.de: Sammlung Kabinettstück

Zaborsky-Wahlstätten, Oskar: Die Tracht des Berchtesgadener Landes, 1943

Bearbeitung: Andreas Hirsch